Die neue A-Klasse

Für den französischen Soziologen, Prof. Pierre Bourdieu, war die Bewegung der Arbeitslosen in Frankreich ein ungewöhnliches Ereignis, eine "neue kämpferische Protestform, die mit allem gewerkschaftlichen und parteipolitischen Traditionen bricht." Endlich seien die bislang von der Arbeitswelt wie auch vom gesellschaftlichen Diskurs Ausgeschlossenen "ins öffentliche Rampenlicht getreten". Obwohl doch alle einschlägige wissenschaftliche Forschungen, von den dreißiger Jahren bis heute, beweisen, daß die Menschen an der Arbeitslosigkeit "Zerbrechen", haben sie jetzt "nicht nur mobil gemacht", sondern "sogar echte Bewegung auf die Beine gestellt."

"Was von der Wirtschaft am heftigsten verdrängt wird", schreibt Bourdieu, "haben sie zurück ins Zentrum der politischen Diskussion geholt" und sie erinnerten daran, daß Massenarbeitslosigkeit eine Erpressung ist, die auf allen Menschen lastet, die n o c h Arbeit haben. Die Mobilisierung der Arbeitslosen nennt Pierre Bourdieu "ein soziologisches Wunder", das "gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit verstößt." Diese großzügige und phantasiereiche Aktion lasse hoffen, daß sie "für eine große europäische Bewegung zum Exempel werde", und zwar "für die Auflehnung gegen wild gewordenen Kapitalismus, der sich unter Verweis auf die vermeintlich ehernen Gesetze der neoliberalen Wirtschaft zu legitimieren versucht."

Die "Europäisierung" des französischen Beispiels ist offenbar kein Wahn. denn inzwischen ist der Funke der Arbeitslosen-Revolte aus Frankreich auch nach Deutschland übergesprungen. Es ist nicht das erste mal, daß eine soziale Bewegung, oder gar eine Revolution, die in Frankreich begann, in Deutschland ihre Fortsetzung fand. wie aber ist diese Revolte der Arbeitslosen in Frankreich entstanden?

Mit Erklärungen sind die meisten Experten in solchen Fällen rasch mit der Formel bei der Hand: "Es begann spontan". hinterher stellt sich jedoch meistens heraus, daß es keine erfolgreichere Spontaneität gibt, als die organisierte. Denn auch diese Bewegung geht auf die Anfänge der achtziger Jahre zurück als kleine "linkskatholische" Gruppen begannen, arbeitslose in ihrer Tatenlosigkeit, ihrer Trägheit, ihrem Selbstmitleid zu entreißen. Sie konnten ihnen zwar keine Arbeit anbieten und hatten auch keine weitschweifigen zukunftsweisenden Programme für sie parat. Sie predigten einfach: "Bleibt morgens nicht im Bett liegen. hebt Euren Arsch hoch. Hockt nicht mit der Rotweinflasche in der Hand vor der Glotze. kommt in unserer Gruppe und laßt uns unsere Erfahrungen austauschen!"

In der Gruppe berichteten sie, wie mutlos sie die Arbeitslosigkeit gemacht hat, wie sie sich nicht nur auf ihr eigenes Leben auswirkte, sondern auch welche Spannungen sie in der Familie verursachte, wie ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge langsam austrockneten. Kurz, sie verrieten einander ihre Lebensgeschichte und lernten einander vertrauen. so entwickelte sich aus diesen Gruppen eine gesamtfranzösische Bewegung von arbeitslosen und Menschen in Billigjobs.

Seit Anfang der neunziger Jahre gibt es die Organisation der Arbeitslosen - inzwischen die größte - die sich "ACI" nennt, französisch "Agir ensemble conte le Chomage" (Gemeinsam gegen Arbeitslosigkeit handeln!) die Legende besagt, die französische Gewerkschaft CGT habe sie ins Leben gerufen Leider aber sprühten auch die französischen Gewerkschaftsführungen - ebenso wie die deutschen - nicht eben vor Initiativfreudigkeit, autonome Organisationen von Arbeitslosen ins Leben zu rufen. Da aber heute die Französische Kommunistische Partei nicht mehr "monolithisch" ist, (manche nennen sie geradezu "anarchisch") und schon gar nicht die CGT-Führung beherrscht, konnte sich dort eine Strömung entwickeln, die sich die Organisation der Arbeitslosen zur Aufgabe machte.

An der "Spitze" treten alle Organisationen von Arbeitslosen, insbesondere gegen die jeweilige Regierung, gemeinsam auf. So etwa,
wenn es um die Forderungen nach kostenloser Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel geht, den Widerstand gegen das Abschalten von
Strom und Wasser oder gegen "Exmittierung" aus Wohnungen, deren Miete unbezahlbar geworden ist.

das Besetzen von Arbeitsämtern als Mittel des Protestes war gelegentliche schon früher erfolgt. aber der Aufbau eines Netzes von
örtlichen und regionalen Verbänden hat die "Schlagkraft" der Bewegung erheblich erhöht. Und als die "Linke" nach einer mächtigen
Streikwelle an die Regierung kam, beflügelte dies natürlich auch die Hoffnungen und Erwartungen der Arbeitslosen. sie forderten
zunächst nur ein "Weihnachtsgeld", dann auch etwa 500 DM mehr für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Aber auch
phantasievolle Aktionen wie die der Arbeitslosen, die sich im Nobelrestaurant "La Coupole" selbst zu Tische luden, verraten das
gestiegene Selbstbewußtsein. nach einer Demonstration begaben sich einige in dieses Lokal und wollten probieren wie die reichen
speisen. Das Ansinnen der Geschäftsführung, sich im Untergeschoß zusammen mit den Angestellten des Restaurants bedienen zu
lassen, lehnten sie empört ab. "Wir haben es satt, immer unten zu sein, während die anderen oben sitzen", erklärten sie. Erst als
Ihnen auf Kosten des Hauses Austern mit einem köstlichen Wein und danach ein wundervolles Fleischgericht mit "Pommes" serviert
wurde, waren sie besänftigt.

Das französische Beispiel fand Nachahmung in Frankfurt/Main. Nachdem 30 Arbeitslose die Nacht auf Freitag, dem 8. Februar 1998, im Arbeitsamt verbracht und ihre "Besetzung" gegen Mittag beendet hatten, zogen etwa 50 Demonstranten zum Luxushotel "Frankfurter Hof". Heinz Kiese, arbeitsloser Werkzeugmacher und Sprecher der Metaller-Arbeitsloseninitiative, verlangte Einlaß, damit "wir Arme auch einmal die Genüsse und Gaumenfreuden der reichen schmecke." Aber nicht einmal sein Zitat von Brecht: "Eine gute Rindssuppe geht mit Humanismus ausgezeichnet zusammen", konnte die Hoteldirektion überzeugen. "Schließlich kann der "Frankfurter Hof" nicht stellvertretende verantwortlich für die Probleme der Gesellschaft gemacht werden", lautete ihr Argument.

Wenn auch die arbeitslosen in Frankreich ihre Forderungen bisher nicht durchsetzen konnten, so ist immerhin trotz wütenden Widerstandes des Lagers der Unternehmer in der Nationalversammlung die gesetzliche Einführung der 36-Stunden-Woche beschlossen worden. und in der Bundesrepublik sollen an dem Tag im Monat, an dem die neuesten Arbeitslosenzahlen bekannt gegeben werden, Aktionen der Arbeitslosen stattfinden.

Jakob Moneta

aus: Betrieb und Gewerkschaft Ausgabe 1998/1

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